Leistungszentrum Mass Personalization schließt zweite Förderphase erfolgreich ab
Individuelle Massenproduktion muss kein Widerspruch sein – im Leistungszentrum »Mass Personalization« erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von vier Stuttgarter Fraunhofer-Instituten zusammen mit acht Instituten der Universität Stuttgart und zukunftsorientierten Industriepartnern, wie maßgeschneiderte Produkte für den Massenmarkt hergestellt werden können. Nach der ersten Pilotphase findet nun auch die zweite Förderphase ihren Abschluss und die von Land und Fraunhofer geförderte Transfereinrichtung zieht zu diesem Anlass Bilanz: Die Zahl der Industriepartner wurde von anfangs 22 auf 69 gesteigert, der erwartete Ertrag aus Industrieprojekten erneut deutlich übertroffen.
Das Konzept der »Mass Personalization« läuft auf eine Umstellung von Prozessen hinaus im Sinne eines ganzheitlichen Nutzungsverständnisses und fokussiert darauf, die individuellen Bedürfnisse und Bedarfe von Kunden und Nutzern bereits bei der Produktentstehung zu berücksichtigen. Das Ziel ist, einen nahtlosen Übergang zu schaffen, der zu personalisierten Produkt- und Dienstleistungsinnovationen führt – mit deutlichem Mehrwert für Kunden und Nutzer, um personalisierte Produkte in Zukunft auch für den Massenmarkt rentabel und konkurrenzfähig machen und deren Vorteile gegenüber klassischen Massenprodukten dabei sogar überwiegen können.
Das Leistungszentrum Mass Personalization (LZMP) in Stuttgart konzentriert sich in seiner Forschungs-und Entwicklungsarbeit auf die Bedarfsfelder Gesundheit, mit Fokus auf die Themen Pharmaproduktion, Medizintechnik und Biomedical Systems, und Lebensräume, mit Fokus auf Innenraumgestaltung und Gestaltung mobiler Räume. Darüber hinaus befassen sich die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit konkreten Fragestellungen zur Umsetzung der Neuausrichtung von Prozessen, hinsichtlich der Nutzerintegration in die Produktentstehung, Potenzialanalysen der Mass Personalization, Adaption bekannter und neuer Technologien sowie der Qualitätssicherung. So sollen gleichzeitig wichtige Impulse für Wirtschaft und Wissenschaft gesetzt werden. Dabei helfen nun auch die Ergebnisse aus 14 bisher geförderten Projekten. Diese sind äußerst vielfältig und spiegeln durch ihre Übertragbarkeit auf die Herausforderungen unterschiedlicher Branchen das Potenzial des Leistungszentrums vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) in Baden-Württemberg wider.
Produktion im Gesundheitswesen
Im Bereich Gesundheit forschte das Leistungszentrum unter anderem an Hydrogelen. Diese sind in der Pharmazie und Biomedizin weit verbreitet, konnten bislang jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt mit additiven Technologien verarbeitet werden. Auf Basis der interdisziplinären Entwicklung im Rahmen des LZMP konnte ein Material- und Methodenbaukasten entwickelt werden, der eine schnelle Adaption an unterschiedliche Anwendungen ermöglicht. Die ebenfalls erreichte Skalierung der Batchgröße um das Vierfache stellt für Firmenpartner aus dem 3D-Druck eine vielversprechende Möglichkeit zur schnellen Umsetzung im eigenen Fertigungsprozess dar. Diese Erkenntnisse sollen die Adaption für weitere 3D-Drucker vereinfachen sowie die Erzeugung von diversen komplexen GelMA-Strukturen (Gelatin-Methacryloyl) ermöglichen, die als personalisierte pharmazeutische Darreichungsformen, personalisierte Patches für Hautanwendungen, Testsysteme und Implantate Anwendungen finden können.
Außerdem ist der im Bereich Medizintechnik entwickelte Ansatz zur virtuellen personalisierten Prüfung von Korsetten neu und soll weiter im Rahmen von Forschungs-und Entwicklungsprojekten mit KMU verbessert und um die orthopädische Wirbelkorrekturanalyse medizinischer Korsetts erweitert werden. Zielgruppe sind Orthesenhersteller, für die neben Produktinnovationen auch spezielle Weiterbildungsformate für die Herstellung personalisierter und qualitätsgeprüfter Produkte angeboten werden. Mit den Ergebnissen der »Next Generation Quality Control« zur Herstellung personalisierter Pharma-Produkte sollen Sprunginnovationen in den Bereichen Zell- und Gentherapeutika ermöglicht werden, die eine neue Generation an Qualitätskontrollen erfordern. Insbesondere im Bereich der zuverlässigen und zeitkritischen Sterilitätskontrollen besteht hierfür ein enormer Bedarf bei Herstellern von Pharmazeutika und Reagenzien.
Lebensräume der Zukunft
Im Bedarfsfeld Lebensräume beschäftigte sich das LZMP mit der Ausgestaltung von Innenräumen von Gebäuden oder Fahrzeugen. Diese sollen zukünftig aktiv durch Licht, Farbe und personalisierte Klima-Komfortfunktionen auf die individuellen Bedürfnisse des Nutzers eingehen. So sorgte das Team des Leistungszentrums etwa mit der Gestaltung des Passagierraums eines Flugtaxis der Zukunft für Aufsehen, welcher durch Anpassung von Form, Materialität und erlebnisunterstützenden Einflüssen auf die emotionalen Bedürfnisse des Fluggastes reagiert. Mit dem entwickelten Ansatz »Air Time − responsive air mobility concept« konnten die Beteiligten den 1. Platz des Wettbewerbs im Fraunhofer-internen Netzwerk »Wissenschaft, Kunst und Design« gewinnen. Durch die Arbeiten der Pilotphase und der nun abgeschlossenen zweiten Förderphase des LZMP können die entsprechenden Vorarbeiten dabei auch KMU zugänglich gemacht werden, die später z. B. als Zulieferer entsprechende Technologien bereitstellen und Vorreiter in diesem Markt sein können.
Das Forschungsvorhaben POINTE (Personalization Of INdoor Thermal Environments) entwickelt ein datengestütztes Verfahren, das mittels Machine Learning die individuellen Klimakomfortpräferenzen von Fahrzeugnutzern erkennt. Anhand von Datenpunkten aus der Nutzerinteraktion werden typische Präferenzprofile ermittelt. Auf diese Weise kann je nach Nutzertyp die Klimaautomatik von Flottenfahrzeugen nach Komfort und Energiebedarf programmiert werden.
Die ebenfalls in diesem Rahmen entwickelte intelligente akustische Fenstersteuerung veranlasst ein Fenster (bspw. in Wohn- oder Arbeitsräumen) entsprechend der Lärmentwicklung außerhalb des Gebäudes, aber auch in Abhängigkeit von Akustik und CO2-Belastung im Innenraum automatisch zu öffnen und zu schließen. Der Nutzer hat weiterhin die Möglichkeit, dem System Feedback zu geben. Aus diesem Feedback lernt der Algorithmus die individuellen Bedürfnisse und Gewohnheiten des Nutzers kennen und reagiert so mit der Zeit immer stärker angepasst und personalisiert auf den Nutzer und dessen Verhalten im Alltag.
Mit der Entwicklung von »Josy«, einem interaktiven Begleiter als soziales Device, konnte das Stuttgarter Team des Leistungszentrums vor allem in Zeiten von Lockdown und Vereinsamung aufgrund der Covid-19-Pandemie einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung von Lebensräumen leisten und den Begleiter bis zur Prototyp-Reife entwickeln.
Potenziale und Bewertung
Neben den Forschungen in den beiden genannten Bedarfsfeldern hat sich das Leistungszentrum mit der Frage befasst, wie Personalisierungspotenziale unabhängig von Branche und Produktart methodisch identifiziert und für Unternehmen als Innovationsimpuls nutzbar gemacht werden können. Um hierzu schnelle Antworten geben zu können, wurde am Leistungszentrum ein entsprechender »Werkzeugkasten« entwickelt. Zentrales Element in diesem Werkzeugkasten ist das »Personalization Potentials Canvas«, ein Tool, das komplexe Zusammenhänge übersichtlich ordnet und mittels gezielter Fragestellungen die zentralen Gestaltungsdimensionen von Personalisierungslösungen abdeckt. Ergänzt wird das Werkzeug durch das »Personalisierungshypothesen-Canvas« zur Ableitung von Handlungsoptionen und das »Personalization Role Canvas«, um zu oder auch schon vor Beginn der inhaltlichen Arbeit eine entsprechende Selbstreflektion und Standortbestimmung im Unternehmen anzuleiten.
Personalisierung kann sowohl negative als auch positive Auswirkungen auf die ökologische Nachhaltigkeit von Produkten haben. Mit dem ganzheitlichen, methodischen Ansatz des »Sustainable Personalized Product Development« unterstützt das Leistungszentrum Mass Personalization Unternehmen in unterschiedlichen Branchen bei der Gestaltung von nachhaltigen personalisierten Produktentstehungsprozessen. Dabei werden Nutzerzentrierung und Nachhaltigkeitsaspekte entlang des gesamten Produktlebenszyklus zusammengeführt und neu gedacht.
Stuttgart Partnership Initiative »Mass Personalization«
Im Rahmen der Mass-Personalization-Partnerschaft der Universität Stuttgart nahm Anfang Januar 2021 auch eine neue Initiative zum Thema Mass Personalization ihre Arbeit auf. Die Initiative fokussiert sich auf exzellente Grundlagenforschung zu Fabrikations- und Biomaterialtechnologien für personalisierte Biomedizinische Systeme:
- Interdisziplinäre Forschung zwischen Produktionstechnologie, Biomedizinischer Technik und Materialwissenschaften.
- Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Gesellschaft über das Leistungszentrum Mass Personalization.
- Exzellente, fakultätsübergreifende Lehre im Bereich Mass Personalization.
Das Ziel ist, den Forschungsschwerpunkt Mass Personalization (MP) an der Universität Stuttgart vor allem im Bereich Biomedizinischer Systeme auszubauen. Neben der Koordination der strategischen Entwicklung an der Universität Stuttgart vertritt die Initiative die Universität in der Organisation des LZMP in Zusammenarbeit mit dem Rektorat, stärkt die Vernetzung der Universität und führt zu einer besseren Auslastung der Ressourcen an den einzelnen Instituten für den Forschungsschwerpunkt MP, um weitere Projekte und Partnerschaften für die angestrebte dritte Phase (Verstetigung ab 2022) vorzubereiten.
Folgende Fakultäten der Universität Stuttgart sind Akteure der Stuttgart Partnership Initiative:
- Fakultät 2 – Bau- und Umweltwissenschaften
- Fakultät 4 – Energie-, Verfahrens- und Biotechnik
- Fakultät 5 – Informatik, Elektrotechnik und Informationstechnik
- Fakultät 7 – Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik
Dieses Spektrum der Akteure zeigt auch die große Bandbreite der Mass Personalization für die Produktion der Zukunft auf.
Weiterbildung für Fach- und Führungskräfte
Des Weiteren beschäftigt sich das Leistungszentrum mit der Frage, welche Chancen Personalisierung bietet und wie sich branchen- und unternehmensspezifische Potenziale ermitteln lassen. Mit seinem Weiterbildungsprogramm will das LZMP neue Impulse setzen und Unternehmen in der Implementierung neuer Ansätze unterstützen. Die Angebote führen in das breite Spektrum der Personalisierung ein. In interaktiven (Online-)Fortbildungen werden Methoden vorgestellt, mit denen sich Nutzerbedürfnisse, Produktanforderungen und Personalisierungspotenziale ermitteln und bewerten lassen. Die wissenschaftliche Anbindung stellt zudem sicher, dass die Fortbildungsinhalte grundsätzlich den Stand der aktuellen Forschung im LZMP aufgreifen und einen innovativen wie praxisorientierten Ansatz verfolgen. Besonderes Kennzeichen der Fortbildungen ist eine teilnehmerorientierte und kurzweilige Umsetzung, die – wie auch die inhaltlichen Aspekte – auf besonders positive Resonanz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer stößt. Bisher konnte das LZMP mehr als 120 Weiterbildungsaktive aus 21 unterschiedlichen Branchen begrüßen, was die übergreifende Relevanz des Themas und den interdisziplinären Ansatz des LZMP widerspiegelt. Die Weiterbildungsinhalte und -formate werden entsprechend der Themenvielfalt im LZMP und anhand der Bedarfe von KMU/Unternehmen fortlaufend erweitert.
Die Zukunft des Leistungszentrums: Innovationsbeschleuniger für Stuttgart und Baden-Württemberg
Nach dem Abschluss der zweiten Förderphase Ende Mai 2021 folgt aktuell eine kurze Transferphase bis Ende 2021. Im darauffolgenden Jahr wird es mit einer bereits jetzt gesicherten jährlichen Grundfinanzierung für den Aufbau der Geschäftsstelle der Fraunhofer-Gesellschaft bis 2025 weitergehen. Das Leitungsteam hat zudem einen kontinuierlichen und partizipativen Strategieprozess angestoßen, mit dem Leistungsangebote und Geschäftsmodelle sowie die inhaltliche Themenentwicklung weiter vorangetrieben werden sollen. Ergebnisse werden jährlich über eine Transfer-Roadmap berichtet und evaluiert. Ziel ist es, das Leistungszentrum dauerhaft als Innovationsbeschleuniger für den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort des Landes Baden-Württemberg zu etablieren und im Dreiklang Fraunhofer, Universität und Industrie in nationale und internationale Märkte auszustrahlen.